... „Vergiss es. Wir sollten doch besser über den Fall ...“
„Stop Klaus! Zu spät. Wo Du angefangen hast, kannst Du mich jetzt nicht so in der Luft lassen - also konkret.“ Sie verschränkte die Arme vor ihrem Busen. Kaschupke griff zum Krug und nahm erst mal einen kräftigen Schluck und wischte sich hängen gebliebenen Bierschaum von den Lippen.
„Hm, ja gut. Konkret! Der Wildenenfall war noch gar nicht. Wir haben Feierabend gemacht - zum ersten Mal seit Wochen pünktlich. Ich stand am Fenster und Du hast unten auf der Straße so einen irren Sprung gemacht, erinnerst Du Dich?“
„Echt? Nein - im Moment nicht. Was denn für‘n irrer Sprung?“
„Oder anders! Auf der Fahrt zur Hochsteinen, da hast Du mir mit Deinen strahlenden Augen so unglaublich tief in die Seele geblickt! Hm, und ich war auf einmal wie aus dem Jetzt gekickt, war wieder jung! Tauchte in die Augen einer Frau ein, die ich in einem anderen Leben gekannt habe - die mich und meine Vision damals ins Wanken gebracht hat ...“
Klara schaute etwas ratlos aus der Wäsche, Kaschupke starrte leer über ihre Schulter.
„Warte - jetzt hab ichs! Angefangen hat das, mit zehn oder elf. Da fand ich kleiner Knirps eine Leiche im Wald. Ängstlich aber neugierig beugte ich mich über den toten Mann, der auf einer Bank am Waldweg lag. Der Blick in die weit aufgerissenen, starrenden toten Augen hat mich nicht mehr losgelassen.
Selbst jetzt, wo ich drüber rede, habe ich Gänsehaut, sehe - wie sich mein kleines Gesicht in den leblosen schwarzen Pupillen spiegelt. Ab da war ich besessen von der Idee, zur Kripo zu gehen und Mörder zu jagen. Herauszufinden, wer sich zuletzt in den noch lebendigen Pupillen der Ermordeten gespiegelt. Es war vollkommen klar, dass ich zur Polizei gehe, jahrelang.
Ich war schon auf der Polizeischule. Begann mich ernsthafter für Frauen zu interessieren. Ja normal in dem Alter. Für die meisten zumindest …“ Kaschupke kicherte in sich hinein.
„Na ja, mich haben damals auch ein paar Schwule angemacht - ich fand die zwar nett, hat mich aber nicht die Bohne interessiert. Eines Morgens hab ich mal was erlebt, im Regionalzug. Dickster Berufsverkehr, alle standen zusammengepfercht - da hat einer angefangen, an meinem Schwanz rumzufummeln – durch den Hosenstoff! Das fand ich übel, traute aber kaum mich zu rühren - ging ja gar nicht wegen der Enge, war geschockt. Wenn das eine Frau ... “
„He Klaus, ich glaube, Du kommst vom Thema ab oder?“ Klara hing gebannt an dem Gesicht ihres Chefs. Nicht wegen dem, was er erzählte, nicht weil er sie Klara und nicht mehr Klärchen nannte. Sie war fasziniert von der Verwandlung, die sich bei dem Mann vor ihr abspiele. So lebendig - ja begeistert hatte sie ihn bisher nicht erzählen gehört. Sein Gesicht, seine ganze Haltung war gewandelt. Er wirkte um Jahre jünger, dynamischer, die Augen funkelten und sprühten. Wie wenn eine gewaltige Last von seinen Schultern gepurzelt wäre - ein anderer Mensch saß da jetzt mit ihr am Tisch.
„Hm? Äh, ja klar, hm.“ Sein Gesicht überzog kurz eine leichte Röte, der Kopf legte sich schief. „Tja, die Frauen ... da waren einige, die mir vor Augen führten, dass es ein anderes Leben gab aber vor allen Dingen diese EINE - sie war ein paar Jahre älter. Die hat mich völlig aus der Bahn geworfen. Sie hatte so eine Angewohnheit - unvermittelt vor mir auf der Straße zu tanzen - einfach so. Dann griff sie meine Hand und wir wirbelten und sprangen wild herum - lachten uns schlapp. Daran hat mich Dein Sprung erinnert ... ihre Augen waren von einem wundervollen, warmen, dunklen rehbraun, die Haare rabenschwarz in unbändigen Locken. Doch zu Zeiten eines besonderen Lichts bekamen ihre Augen einen grünen Schimmer, die schwarze Mähne schien von innen rötlich zu glühen.“ Kaschupkes Blick verlor sich in unbestimmter Weite, seine Miene so weich und lächelnd. Klara traute sich kaum, in anzustupsen, da Sven irritiert wartend am Tisch stand, den Block in der Hand, um die Essensbestellung aufzunehmen.
„Alles klar Herr Kommissar?“, kam der Wirt ihr zuvor und wedelte mit einem Schreibblock vor Kaschupkes Nase herum. Instinktiv legte Klaus den Kopf in gewohnter Manier schräg, das obligatorische Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit. Da war er wieder, der alte Kaschupke. Aber Klara kam diese so vertraute Marotte mit einem Mal falsch und übertrieben - nicht richtig vor.
„Hm, nehme ich mal das Biorumpsteak mit grünen Bohnen und Folienkartoffel - ach Sven, habt Ihr eigentlich Beaujolais? Dann trink ich ein Glas zum Steak.“ Sven und Klara starrten gleichermaßen den Kommissar an, als hätte er was Unanständiges von sich gegeben.
„Ähm, ja - da muss ich ehrlich gesagt mal kurz nachschauen - du meinst diesen französischen Rotwein oder hab ich mich verhört?“
„Ganz recht! Diesen leichten jungen französischen Rotwein aus dem Beaujolais im Rhonetal, den meine ich. Irgendwas nicht in Ordnung damit?“ Kaschupke wirkte aufgekratzt provokant.
„Ich ess dann das Gleiche und bring die ganze Flasche, falls Du eine findest. Muss man doch ausnutzen, wenn Klaus schon mal Wein statt Gerstensaft trinkt.“, strahlte Klara Sven an. Der blieb ein paar Schrecksekunden stehen, bevor er sich abrupt umdrehte, zwei Schritte Richtung Tresen schaffte - sich erneut ruckartig zu seinen beiden Gästen wandte.
"Fast vergessen, wie wollt Ihr denn die Steaks?"
"Medium.", sagte Klara - "Bleu.", ergänzte Klaus, und Sven verschwand.
„Hm, gleich eine ganze Flasche Wein? Ist das nicht ein bisschen übertrieben, Klärchen?“ Kaschupke sah zweifelnd zur Kollegin und bemerkte, wie sie kurz zusammenzuckte.
„Mensch Klaus! Wenn Du schon mal Rotwein mit mir trinkst und mich Klara nennst - das muss ich doch feiern. Am Liebsten sind mir zwar die Italiener aber Beaujolais ist auch ok - hab ich ewig nicht mehr gehabt. Den hat sie gerne getrunken oder? Wie war ihr Name?“
„Lilith.“ Kaschupke hatte wieder seinen Träumerblick.
„Wow, wie Adams erste Frau, geil. Die war die ultimative Feministin, eine die sich dem Manne nicht unterordnet.“
„Hm, wenn Du das sagts - die meisten nannten sie Lilli, aber für mich war und ist sie immer Lilith. Ja und es stimmt, sie war radikal, wenn auch im engeren Sinne nicht politisch. Würde sagen - eine Freidenkerin, die Freiheit des Menschen war ihr heilig. Deswegen hat sie es nicht gestört, dass ich Polizist war, zur Kripo wollte. Das waren ja die Siebziger und wir hatten damals keinen guten Ruf bei diesen Gruppen, zu denen sie gehörte, wenn auch am Rande. Studentenunruhen, Antiatombewegung, Spontis und klar - Bader-Meinhof, die RAF und so weiter. Aus unerfindlichem Grund waren meine Lieben immer mit diesen radikalen Kreisen verbandelt.“ Kaschupke schüttelte leicht den Kopf und lächelte.
„Sobald die Frauen herausfanden, dass ich bei der Polizei war, gab es Streit und endlose Diskussionen, bis sie mich sitzen ließen. Lilith war anders. Sie hat verstanden, dass es mir um die Gerechtigkeit ging. Da waren wir seelenverwandt! Aber was sie vor allem wollte war reisen! Mit mir durch die Länder unserer Mutter Erde ziehen. Eines Tages einen friedlichen Platz finden, egal wo und mit mir dort viele Kinder haben. Das war ihr Traum, der gefiel mir genauso wie ihr - sie war die Liebe meines Lebens - aber dann ...“
„Hab ne Flasche gefunden.“, platze Sven begeistert dazwischen. Die Köpfe der Klas fuhren zu ihm herum. „Oh! Hoffe, ich störe nicht. Er ist zwar etwas alt für einen Beaujolais, liegt da schon ne Weile im Regal, aber könnte gehen. Soll ich?“ Verunsichert hielt der Wirt den entgeistert zu ihm Aufschauenden, die Flasche und den Korkenzieher entgegen. „Steaks kommen gleich.“
Da Klara und Klaus ihn weiter nur etwas dümmlich anschauten, entkorkte er mit einem Achselzucken den Wein und holte die Gläser. Klara schnappte sich die Flasche.
„Hat über sechs Jahre auf dem Buckel, schon heftig für einen Beaujolais. Ab vier wird es kritisch bei denen.“
„Hm, kennst Dich ja prima aus mit Weinen, was? Zeig mal - hübsches Etikett und ein Village, da könnten wir Glück haben.“, gab Kaschupke sich zuversichtlich und Sven brachte die Gläser mitsamt den gut gefüllten Steak-Tellern.
„Einmal medium für die Dame und bleu für den Herrn.“
Schmunzelnd und elegant platzierte Sven die Teller schwungvoll auf den Tisch, nahm dem Kommissar die Flasche aus der Hand und schenkte ihm einen kleinen Schluck in sein Glas ein. Der schaute ihn mit leichter Irritation in den Augen erstaunt an.
„Wenn der Herr probieren wollen würde, ob alles in Ordnung ist, mit diesem exquisiten Jahrgang?“ Sven blieb dabei todernst, Klara war kurz davor loszuprusten. Kaschupke schaute rasch von einem zur anderen, nahm bedächtig sein Glas, schwenkte die wenige blutrote Flüssigkeit mit kreisenden Bewegungen herum, bevor er sich den Tropfen Beaujolais in den Mund goss und geräuschvoll durch die Zähne presste.
„Vorzüglich! Davon nehmen wir ne Kiste.“ Alle drei feixten sich an und der Wirt füllte die Kelche, bevor er gut gelaunt zur Theke zurückkehrte. Es war ein guter Jahrgang, der zwar seine typische frische Leichtigkeit verloren, dafür aber eine gehaltvolle fruchtige Schwere gebildet hatte.
So prosteten sich Klara und Kaschupke mit anerkennendem Kopfnicken zu, ehe sie sich hungrig über die Steaks hermachten. Da nach den ersten schnellen Bissen der Magen sich beruhigte, schaute die Kommissarin zu ihrem Chef und sah ihn versonnen kauend, den Beaujolais im Glas betrachten. Er war wieder in seine ferne Vergangenheit abgetaucht, bis Kaschupke Klaras Blick spürte. Mit einem leichten Lächeln und traurigen Augen wandte er sich ihr zu und sie war begierig, die Geschichte weiter zu hören.
Ihr Teller leerte sich schnell, der Wein wurde wieder aufgefüllt, da ihr Gegenüber sich Zeit mit seinem Rumpsteak ließ. Endlich war der letzte blutige Fleischsaft im Teller mit einem Stückchen Baguette aufgesaugt.
„So Klaus - … aber dann?“ Klara sah sich auf die Folter gespannt. Kaschupke nahm den Wein und sein Blick schien in der roten Flüssigkeit zu versinken, doch er trank nicht.
„Hm, tja - und dann ...“, jetzt floss ein Schluck in seine Kehle und Klara war kurz davor ihn kräftig zu schütteln. „... dann kam mein erster Mordfall! Und Du wirst es nicht glauben - genauso wenig, wie ich es damals glauben wollte. Der verdammte, grausame Fall hing in seinem Verlauf in schicksalhafter Weise mit diesem Toten im Wald zusammen, den ich fünfzehn Jahre vorher auf meinem Schulweg fand und mir die fixe Idee mit der Polizei ins Hirn pflanzte.“
„Echt jetzt? Das ist ja krass, puh.“ Klara ahnte, wie es weitergehen würde.
„Ja genau - krass - da war sie ungebeten und unwillkommen wieder - meine Vision! Wir hatten alles bis ins Detail vorbereitet, Reiserouten festgelegt, Impfungen gecheckt, Geld auf einem gemeinsamen Konto gespart. Ich hatte sogar den Führerschein gemacht, obwohl ich Autos zu der Zeit bescheuert fand, wollte noch einige Monate arbeiten, um die Kasse aufzufüllen. Lilith jobbte als Dekorateurin bei Karstadt - und dann boom! Ich war wie gelähmt. Dienstgeheimnis hin oder her, habe ich ihr nach schlaflosen Nächten alles erzählt.
Sie hat geheult wie ein Wolf, bis sie am Ende unter Tränen flüsterte - Wenn das Deine Vision ist Klaus, dann musst Du ihr folgen, egal was kommt. Dafür sind Visionen ja da. Es zerreißt mir das Herz, aber meine Vision kennst Du. Ich hätte sie so unglaublich furchtbar gerne genau mit Dir geteilt. Doch Du wirst verstehen, dass ich ebenso meiner Bestimmung folge. Bei ihren Worten brachen bei mir die Dämme. Da lagen wir im gemeinsamen Wohnzimmer auf dem Berber und weinten uns die Augen aus. Liebten uns verzweifelt immer wieder, bis keine Tränen mehr da waren und unsere Körper erschöpft in inniger Umarmung in einen gnädigen Schlaf fielen. Ich überließ Lilith alles, was wir für die große Reise angeschafft, vorbereitet und gespart hatten.
Wie bei akuten Fällen ja leider nicht selten, kam ich am nächsten Tag abends spät nach Hause und sie war weg - aus meinem Leben verschwunden – für immer ...
In unserer gemeinsamen Hütte hielt ich es alleine nicht aus und hab für den Rest des Falles in einer Pension ein Zimmer genommen, bin wie ein Wilder in die Arbeit - diesen verfluchten Mordfall gestürzt. Tja, es war seltsam, aber so grausam es mich quälte die große Liebe verloren zu haben, von dieser Gerechtigkeitsvision war ich durch den Winkelzug des Schicksals erneut restlos überzeugt.“
„Uff.“, machte Klara und schaute ihn mit leichtem Stirnrunzeln nachdenklich an.
„Hm - uff! Diese ganzen verdammten vierzig Jahre gab es für mich keine ernsthaften Zweifel an meiner Berufung - außer eben der Geschichte mit Lilith damals. Doch seit ein paar Tagen kommt auf einmal alles ins Wanken. Habe ich diese komischen Aussetzer - drifte weg. Ausgerechnet jetzt, wo ich fast schon in Pension gehe, denke ich - scheiße Klaus! Hast du das falsche Leben gelebt?“
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